Varansi stellt eine der heiligsten Stätten für die Hindus dar. Es gilt als eine Ehre an den Ufern der Stadt am Ganges öffentlich verbrannt zu werden und die Asche anschließend dem Ganges zu übergeben.

Ich kam mit dem Nachtzug und wollte eigentlich erst einmal ein wenig die Stadt erkunden. Ich ging am Wasser, an den sog. Ghats, entlang. Auf einmal sah ich jede Menge gestapeltes Holz. Ich wusste schon wofür das war. Ich ging weiter und erblickte mehrere Feuerstellen. Da schaute aus einer etwas rundes, ballartiges heraus. Es war ein Schädel. Daran hing schwarz-verbrannt die Wirbelsäule. Die Rippenbögen sahen ganz weiß aus. Die Feuerstelle war schon ziemlich herunter gebrannt.

Ich ging weiter zu einer anderen Stelle, an der sich Menschen versammelt hatten. Zwischen ihnen stand eine Kuh – zufällig. Und ich stand im Fladen der Kuh, mit beiden Schuhen. Ich wurde angewiesen mir die Fladen vom Fuß zu entfernen, falls ich an der Zeremonie teilnehmen wolle. Also ging ich ein paar Stufen hinab zu Ganges und hielt meine Schuhe hinein. Mit nassen Füßen und beschämt ging ich wieder nach oben.

Die Menschen hatten sich um ein Holzbett, mit einem darauf liegenden alten Mann, versammelt. Er war in Leinen gewickelt, das Gesicht hatten sie ihm aufgedeckt. Seine Augen waren geschlossen. Es schien, als ob er schlief. Mehrere Holzscheite wurden auf seinen mageren Körper gelegt, so dass er zu einem Teil des Holzbettes wurde. Nur noch sein Kopf und seine Füße schauten hinaus. Ein paar Männer sprachen Gebete. Ich sah einen Mann um den Alten im Holzhaufen weinen, vermutlich sein Sohn. Er ging zum Toten und küsste seine Stirn. Dann wurde der Scheiterhaufen entzündet. Sägespäne und Öl brachten ihn schnell zum lodern. Das Feuer breitete sich von den Füßen aus. Das Tuch, in welches der Leichnam gewickelt war, verbrannt zügig. Jetzt waren die nackten Füße zu sehen. Die Haut schälte sich papierartig an den Knöcheln ab und das satt-gelbe Unterhautfett kam zum Vorschein.

Ich wechselte meine Position auf eine Mauer und konnte nun auf die Verbrennungsstelle hinabsehen. Sie war eines von vier Feuern nebeneinander an der Mauer. Oben war es unerträglich heiß. Dieses Foto schoss ich am nächsten Morgen heimlich mit dem Handy. Es ist streng verboten hier Bilder zu machen. Mehr Risiko wollte ich erstmal nicht eingehen.

Trotz Hitze blieb ich auf der Mauer. Ich wollte das Gesicht des Mannes sehen. Ich konnte es ganz genau erkennen. Er schlief noch immer ruhig. Doch langsam veränderte sich sein Gesicht. Erst quoll es auf. Die Zähne zeigten sich nun deutlich. Aus den Augenhöhlen stiegen Blasen auf. Es kochte aus ihnen. Dann sprang der Schädel auf und es tropfte Hirnmasse heraus. Das zuvor braune Gesicht des Mannes färbte sich schwarz und wurde immer schrumpeliger. Der Schädel kam zum Vorschein.

Ab und zu knackte es am Verbrennungsplatz. Irgendwas platze bei den Leichen auf. Bei einer sah ich die Gedärme, bei einer anderen fiel der Fuß ab. Es war einfach makaber, einfach und würdevoll. Einfach insofern, als das eine Verbrennung eine hygienische Sache ist. Innerhalb von 2-3 Stunden wird sich eines toten Menschen entledigt. Hier passiert das im Akkord. Neun Feuer brannten gleichzeitig um mich herum. Ständig wurden neue Tote auf Bambustragen ans Ufer getragen. Alte Feuerstellen wurden gelöscht, die Asche mit großen wokartigen Schalen eingesammelt und ans Gangesufer geschaffen. Dort nahmen sich dafür eingeteilte Männer der Überreste an. Die größeren, übrig gebliebenen Stücke wurden gefiltert und auf ein Extrafeuer geworfen. Der Rest wurde mit goldwäscherartigen Bewegungen dem Ganges übergeben. Drei Männer waren fortwährend damit beschäftigt die Asche der Verbrannten mit kreisenden Bewegungen in den Fluss zu spülen. Sie waren bis zur Brust im Wasser, umgeben von Grau der Asche, tauchten darin und schienen ihre Arbeit gern zu verrichten. Jedenfalls taten sie es mit Hingabe.

Zwischen den Feuerstellen fraßen wilde, aber nicht scheue Kühe die Blumenverzierungen der Toten. Auch von den noch nicht verbrannten, noch an der Seite liegenden. Die Kühe schienen da keinen Unterschied zu machen. Ein riesiger Büffel badete 20 Meter entfernt von den Männern, die die Asche an den Fluss übergaben.

Ich schaute mir das Treiben mehrere Stunden an. Ich fand es schockierend und faszinierend zugleich. Eigentlich habe ich gar keine passenden Worte dafür, was ich da erlebt habe. Die Stimmung am Ghat war friedlich, fast schon alltäglich. Ich dachte mir: Heute ist es der alte Mann, der verbrannt wird. An einem ganz normalen Tag. Und irgendwann werde ich es sein, der verbrannt wird. An einem ganz normalen Tag. Was ich beschrieben habe, sah ich mit eigenen Augen. Aber ich kann es noch gar nicht fassen, nicht begreifen.

Wir Deutschen in Deutschland haben kaum Bezug zum Tod. Alles, was damit zu tun hat, wird systematisch aus dem Alltag verbannt. Kaum einer, der schon einmal eine Leiche zu Gesicht bekommen hat. Da ist der offene Umgang, hier in Varanasi, genau das Gegenteil. Es war alles zu sehen. Und mir wurde wieder klar, dass wir Menschen auch nur aus Natur bestehen. Macht man uns Feuer unterm Hintern, verbrennen wir. Dann kommt alles zum Vorschein, was unter unserer Haut steckt. Bis zum Totenschädel. Ich erlebte mit, wie sich ein schlafendes Gesicht im Feuer in einen Schädel verwandelte. Vom Anfang bis zum Ende.

Ich finde auch, dass eine solche Verbrennung kein schlechter Abgang ist. Man bekommt sein Holzbett, wird feierlich darauf gebettet, kann zwei Stunden darauf in Ruhe verbrennen und wird dann dem Fluss übergeben. Ist doch alles in Ordnung. Unsereins ist noch nicht bereit zum Sterben. Deswegen fühlt es sich noch so fern an. Aber der Tag kommt ganz sicher. Dann werden wir die Toten sein, an einem ganz normalen Tag.

Verbrennen ist, nachdem ich das jetzt gesehen habe, auch für den Toten gar nicht schlimm. Kein Gesicht hat sich schmerzlich verzogen, kein Fuß hat gezuckt. Alle sind friedlich vor sich hin verkokelt. Als ich nach ein paar Stunden den Ort verließ, bemerkte ich einen Aschefilm auf mir. Ich klopfte ihn mir herunter und roch an mir. Ich hatte Grillabend-Duft an mir. Also auch nichts Schlimmes. Dennoch bevorzugte ich es nach Ankunft im Hotel zu duschen.

Meine heutigen Erlebnisse arbeiten noch in mir. Das spüre ich. Es hat mein Verständnis von Tod um eine Erfahrung bereichert.

PS: Bei Google Bilder gibt es unter dem Stichwort „Varanasi Leichenverbrennung“ genug Bildmaterial